Willkommen in diesem Bereich in welchem ich einige meiner Kurzgeschichten posten werde.
Als Hobby hab ich schon einiges geschrieben und tippe je nach Lust und Zeit noch immer fleißig weiter.
Ich schreibe Gruselgeschichten, die ich als eine Art "psycho-Horror" bezeichnen würde, da das Unheimliche nur selten direkt genannt und gezeigt wird.
Hier nun also einige Geschichten:
Ein rauer Sommerwind wehte durch dieÄste der Bäume des Lichtenmoors. Trotz des milden Klimas, welchesfür diese Jahreszeit jedoch überraschend kühl war, brachte er michdazu die obersten Knöpfe meines Mantels zu schließen.
Mich führten Geschichten in diesenabgelegenen Teil der Erde. Geschichten über ein sonderbares Leuchtendes Nachts. Ein nicht materieller Schein soll hier zu bestimmtenUhrzeiten von einigen Wanderern gesehen worden sein.
Der Ursprung dieser hellen Kugel,welche angeblich ein Wirrwarr der buntesten Farben war, warunbekannt.
„Ein Irrlicht also“, murmelte ichin den Kragen meines Mantels hinein.
Ich hatte noch nie eines dieserIrrlichter gesehen, jedoch von klein auf Erzählungen über siegehört.
Sie existieren seit unzähligen Zeitenund spuken meist in Mooren herum. Dabei irritieren sie Wanderer undführen sie von sicheren Wegen ab, in den moorastigen Tod hinein.
Die Berichte über das Irrlicht indiesem Moor erschienen mir ziemlich glaubwürdig zu sein. Der Kriegist erst seit wenigen Jahren vorbei und so langsam kehrt wiederNormalität in den Alltag.
Zu Kriegszeiten hörte ich nie etwasüber diese seltsame Erscheinung, aber jetzt tat ich es. Neugierigwie ich war, wollte ich diesen Spuk auch einmal sehen.
Nachbarn und Freunde wollten mich vondiesem Trip abhalten, sie glaubten, es sei zu gefährlich.
Doch ist ihnen wohl nicht klar, dassmich ein Licht niemals töten könnte. Womit denn auch? Und ich weißsehr wohl, dass ich mich von den gesteckten Pfaden im Moor nichtabbringen lassen soll.
Einige Menschen glauben tatsächlich anein Irrlicht. Einige eher an einen Geist einer im Moor ersticktenPerson. Wieder andere hatten die Vermutung, dass ein Mörder miteiner seltsamen Lampe Menschen ködert, um sie dann zu töten und zuverspeisen. Daher fände man auch nie die Leiche eines Vermissten.
All diese Erzählungen schreckten michnicht ab, sondern machten mich nur noch neugieriger. In mir branntedas Verlangen, dieses Wesen endlich einmal selbst zu sehen.
Nun stand ich am Lichtenmoor, an derKante eines der verschlungenen Pfade die durch dieses Sumpfgebietführten und sah nach unten in das dunkle Wasser vor mir.
Vor meinem inneren Auge sah ich knappunter der Oberfläche des modrigen Tümpels die aufgehäuften Leichenhunderter Menschen aus den Jahrtausenden, die dieses Moor hier schonexistiert.
Ein Mann, aus den Fünfzigern, danebeneine Frau aus den Dreißigern, die ein langes Kleid trägt. Darunterein vornehmer Herr aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit hohenSeidenstrümpfen und ein weiterer Mann mit einer langen Robe undeiner Perücke. Eine Magd verweste neben ihnen und in ihrem Arm lagein kleiner Säugling in einem braunen Tuch eingewickelt. Weiterunten war ein Knappe zu erkennen. Vermutlich zwölftes Jahrhundert.Er hatte das Pferd seines Herrn durch das Moor geführt. Doch alsdieses plötzlich und aus heiterem Himmel zu steigen begann, war derJunge einen falschen Schritt zur Seite getreten und nie mehrheimgekehrt.
All diese Körper lagen mir nun zuFüßen. Ihre Seelen hatten diesen Ort schon lange verlassen.Vielleicht zumindest.
Es war bereits dunkel geworden.Lediglich am Horizont war noch ein feiner roter Faden der Sonne zusehen.
Ich war mir sicher, dass ich sie ineinigen Stunden an der anderen Seite des Horizonts wieder auftauchensehen würde. Meine alte Freundin konnte mir da nichts vormachen.Denn sie verschwand nie wirklich.
Die Öllaterne meines Urgroßvatersspendete mir für die Abwesenheit meiner Freundin das benötigteLicht.
Nachts allein im Moor war es dann dochziemlich unheimlich. Doch versuchte ich diesen Gedanken nicht zu nahan mich heran zu lassen. Alle Orte waren nachts gruselig. Sogar dieeigene Toilette war es.
Ich überprüfte ein letztes Mal, obich auch genug Öl für die Laterne dabei hatte und sicherheitshalberauch ein paar Zündhölzer. Es war alles da.
Noch einmal atmete ich die feuchte Luftdieses Ortes tief und entspannt ein und marschierte dann los. DieSuche nach dem Irrlicht begann.
Die Erzählungen von Augenzeugenspuckten mir dabei im Kopf herum. Einige hatten es beimSpazierengehen des Abends gesehen und waren sofort weggerannt.Diejenigen, die nicht sofort die Flucht ergriffen hatten, die überkamdas Verlangen, dem Licht zu folgen…
So war es zwei Freundinnen aus derStadt passiert. Die eine lief weg, kurz nachdem sie das Lichtaufflackern sahen. Die andere hingegen blieb stehen.
Als die ängstliche Freundin den Randdes Moores und die nahe Straße erreicht hatte, hielt sie einenvorbeikommenden Wagen an. Panisch erzählte sie von der Erscheinungund mitsamt der drei Wageninsassen machten sie sich auf den Weg,zurück an die Stelle, an der das Licht aufgetaucht war.
Doch war nichts zu sehen. Nicht einmaldie zurückgebliebene Freundin war noch dort. Lediglich ihreFußspuren entdeckte man. Diese führten direkt ins Moor hinein. Manfand sie nie wieder, auch nach drei Wochen Suche nicht.
Als ich davon hörte, kam mir derGedanke, dass das so gar nicht möglich sei. Man hatte ja die Stellegefunden, an der sie das Moor betreten hatte. Da hätte man sieentdecken müssen.
So gab es für mich nur vierErklärungen.
Die Erste: Die Geschichte ist erstunkenund erlogen.
Die Zweite: Der Suchtrupp hatte Pechoder war einfach dumm und war wohlmöglich an der falschen Stelle, umnach dem Mädchen Ausschau zu halten.
Die Dritte: Jetzt wird’s unheimlich.Das Moor hatte sich vor den Mädchen geöffnet und es war in der Lagebis zu einem gewissen Punkt auch noch unter der Wasseroberfläche zulaufen.
Die Vierte: Das Irrlicht ist inWahrheit eine außerirdische Lebensform, die Menschen irgendwiewegtransportiert.
An einen menschenfressendenMassenmörder in diesen Sümpfen glaubte selbst ich nicht. Das war zuabsurd. Ufos wurden schließlich schon häufig gesehen und wer wussteschon, über welche Technologien die Wesen anderer Sterne allesverfügen. Aber ein Mörder in einem Sumpf? Was sollte der hiermachen? Opfer fanden sich besser in Parks oder Bahnhöfen, belebtenPlätzen halt. Aber nicht an so einem verlassenen Stückchen Erde,das erst Recht bei Nacht kaum einer betreten mochte.
Plötzlich blitzte neben mir etwas auf.Frisch aus den Gedanken gerissen, zuckte ich zusammen.
Zwei helle kleine Kugeln funkelten michaus dem Gebüsch zu meiner Rechten an. Dann raschelte es und etwasSchwarzes sprang heraus. Ich machte einen Satz nach hinten und griffreflexartig an den Knauf meines Armeemessers, welches ich am Tagzuvor erst am Gürtel befestigt hatte. Das Wesen sah mich kurz mitseinen leuchtenden Augen an, dann huschte es von dannen, nur um mitder Dunkelheit der Nacht eins zu werden.
Noch immer wie gebannt, blieb ichalleine zurück.
Es dauerte etwas, bis ich mich von demSchock erholt hatte und über mein panisches Verhalten lachen musste.
Es war ein Fuchs gewesen, oder eineKatze. Irgendein kleines Tier zumindest, welches nach Sonnenunterganghier Unfug trieb.
Wobei eigentlich war ich es, der dastat. Schließlich war ich auf Irrlichtjagd, nicht auf Nahrungssuchewie der Fuchs.
Ich ließ den Griff meines Messers, inwelchem sorgsam mein Name Eberhart Zweig eingraviert war, losund sah mich kurz nach anderen Tieren in der Nähe um.
Sicherheitshalber machte ich wiedereinen Schritt nach vorne. Das Ausweichmanöver, welches der Fuchsprovoziert hatte, hätte mich beinahe fern des Weges in den Stumpfbefördert.
Ich sah die dunkle Oberfläche desmuffigen Wassers und starrte in mein überraschtes Spiegelbild.
So schnell hätte es also auch gehenkönnen. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Wohlmöglich wareneinige Spaziergänger auch durch einen solchen Schreck vom Wegabgekommen und so letztendlich in den unvorstellbaren Tiefen diesesOrtes verloren gegangen.
Wie sah der Grund eines Mooresüberhaupt aus? Und gab es einen? Und was befindet sich dort unten?Sickern die Leichen in den Jahren bis zum Grund oder bleiben sieJahrhunderte lang auf einer Höhe stecken wie Marionetten nur ohneFäden?
Die Vorstellung von im Boden hängendenLeichen umgeben zu sein, jagte mir einen kalten Schauer über denRücken.
Ich schwor mir jetzt immer schön genauin der Mitte des Pfades zu bleiben, dort war es schließlich amSichersten.
Vorsichtig schritt ich weiter voran.Zum Glück hatte es einen Tag zuvor geregnet, so war das Moor starkmit Wasser gefüllt und im Schein meiner Lampe konnte ich dessenOberfläche gut erkennen.
Leider gingen mir die selbsteingeredeten Bilder von herumbaumelnden Leichen der Jahrhundertenicht mehr aus dem Kopf. Meine masochistische Vorstellungskrafterkannte sie nach und nach überall.
Sie hingen in den Ästen alter Bäumeund starrten mit ihren erkalteten Augen auf mein noch schlagendesHerz. Andere schwammen knapp unter der Wasseroberfläche neben mirund warteten auf den besten Moment, um ihre knochigen Armeauszustrecken und mich zu packen, um mich mit in die luftlose Tiefezu reißen.
Sie hockten am Wegesrand und tarntensich im Schein der Lampe als Gebüsch oder Stein, nur um in derDunkelheit wieder ihre wahre Form anzunehmen und lautlos hinter mirher zu schleichen.
Ich hörte es neben mir plätschern undtropfen. Eine der Leichen war aus dem Wasser geschlurft.
Verängstigt drehte ich die Lampe indie Richtung, aus der das Geräusch kam.
Nichts…
Moorastiger Boden und die schwarzeWasseroberfläche die regungslos in der Nacht dalag. Doch spürte ichin meinem Inneren, wie es unter ihrem ruhigen Schein kochte, brodelteund lebte. Doch das Leben dort, war nicht von dieser Welt.
Ich verfluchte meine Fantasie undversuchte mich auf das Irrlicht zu konzentrieren. Das Irrlicht wares, das ich sehen wollte. Keine Leichen von… NEIN!
Irrlicht…
Irrlicht…
Irrlicht…
Bunte Farben.
Viele, viele bunte Farben dieherumschwirren. Ein Licht, ein Leuchten.
Ein Massenmörder der an dem alten,modrigen Bein einer Moorleiche knabbert…
Ahhh…
Nicht schon wieder!
Ich begann meinen Spontanausflug soganz alleine ein wenig zu bereuen. Zu zweit wäre es wohl bessergewesen.
Alte, ausgetrocknete Arme ragten ausden mich umgebenden Wassern heraus, die im Lampenschein beinahe wieabgestorbene Äste aussahen.
„Ihr macht mir nichts vor…“,murmelte ich zu den Astarmen und schlich weiter.
Die Vorstellung Geräusche zu machen,um die Aufmerksamkeit der ewig Schlafenden noch mehr auf mich zuziehen, missfiel mir.
Dabei war meine Lampe sicherlich schonauffällig genug.
Denn selbst wenn es hier ein Irrlichtgab, so strahlte es doch angeblich in einem lebendigen Spektrumheller Farben. Das Licht meiner Lampe erschien dagegen nahezukläglich normal und leblos.
Ein deprimiertes Gefühl stieg in mirhervor, bei dem Gedanken daran, von einem Irrlicht übertrumpft zuwerden. Doch wenn ich ehrlich zu mir war, so war jedes Glühwürmchenzu der Erschaffung von schönerem Licht in der Lage, als ich es war.
Glühwürmchen… Konnten sie dasIrrlicht ausgelöst haben?
Doch konnte ich nirgends welcheerspähen.
Ich zog weiter, die gierigen Blickemodriger Augenpaare noch immer auf mir spürend.
Das ist alles nur Einbildung.
Deine Fantasie spielt dir Streiche.
Wie viele Menschen hier wohl ihren Todgefunden hatten?
Sollte ich einer von ihnen sein?
Das war der Tropfen, der das Fassmeiner Angst zum Überlaufen brachte. Ich beschloss besser umzudrehenund das Irrlicht an einem anderen Tag zu suchen. Mit Verstärkung ambesten.
Ich machte direkt auf dem Absatz kehrtund wollte den Weg zurückgehen, den ich gekommen war.
Leider kam ich nur ein paar Schritteweit, dann blieb ich geschockt stehen und starrte mit offenem Mundauf den Boden vor mir.
Im feuchten Untergrund, konnte ich dieAbdrücke meiner Schuhsohlen genau erkennen. Das einfache Musterzeichnete sich deutlich ab.
Doch neben den von mir verursachtenFußspuren waren noch andere zu sehen, welche von nackten Füßen.Sie waren kleiner als die meinigen und nass. So nass, dass sich inihren Abdrücken kleine Pfützen gebildet hatten.
Ich hoffte stark, dass diese Abdrückeälter waren, als die meinigen.
Ihr Verursacher ist zumindest älter…
Ein Blick nach vorne zeigte nichts…nur die Schwärze der Nacht. Selbst der rote Faden der Sonne warverschwunden. Oh, wie ich mir ihre Anwesenheit doch in diesemAugenblick zurück wünschte.
Aus der aufsteigenden Angst, wurdeleichte Aggression geboren.
Ich hatte die Nase voll von diesem Moorbei Nacht. Seltsame Lichter hin oder her. Das war doch alles nurHumbug!
Naserümpfend schritt ich hastig voran,zurück nach Hause, zurück, zurück.
Dabei tapste ich vermehrt in Pfützen.In viele, viele kleine Pfützen. Die waren vorher noch nicht dagewesen. Oder etwa doch?
Dieses seltsame Treiben im Lichtenmoorließ mich panisch werden.
Meine Schritte wurden schneller undunbedachter und in einem Moment der Unachtsamkeit rutschte ich ausund schlitterte die Böschung herab ins Wasser.
Ruckartig und voller Panik zog ich michheraus, bevor das Moor meine Anwesenheit auf seiner Zunge schmeckteund kroch durchnässt zurück auf den Weg.
Ich hatte die Laterne fallen gelassen.
Sie lag etwa zwei Meter neben mir undbrannte noch.
Zunächst wollte ich sie aufheben, dochdann sah ich den Schatten neben ihr hocken. Den Schatten einesaufrecht sitzenden Hundes. Ich blickte auf, konnte aber kein Tiersehen.
Der Schattenhund legte den Kopf schiefund starrte mich an.
Dann hob er die Pfote und ließ sie aufdie Laterne niedergehen. Im selbigen Moment erlosch ihr tröstendesLicht und ließ mich allein in der finsteren Nacht zurück.
Es dauerte etwas, bis ich mich wiederbewegen konnte. Zu meinem Glück war der Vollmond nahe und der Himmelwar sternenklar. Wenigstens sie, die dort oben, die kleinen Freundeder Sonne, schienen mir milde gesonnen und wollten helfen.
Ihr Licht erhellte das Moor schwach.Aber zumindest stark genug, dass ich den Weg erkennen konnte.
Der Hund hatte mir einen unheimlichenSchrecken eingejagt und ich wollte nicht in seine Nähe kommen. Soließ ich die Laterne an Ort und Stelle und rannte los. Weiter inRichtung Ausgang.
Renne niemals vor einem Hund davon,das erweckt seinen Jagdinstinkt.
Konnte ich wirklich so dumm sein?
Es war eine Pattsituation.
Etwas unheimlich Kaltes, biss mirplötzlich ins Bein und brachte mich dazu, erneut hinzufallen.
Ich rollte mich auf die Seite undwollte nach dem Tier treten, doch stampfte ich nur ins Leere, obwohlich die Zähne noch immer in meinem Fleisch spürte.
Nichts was einen Körper hatte, wardort.
Du musst weiter!
Ich krabbelte los und versuchte dabeiunter Schmerzen aufzustehen. Da ich keinen Körper getroffen hatte,redete ich mir ein, dass mich etwas gestochen hatte oder sichirgendetwas anderes, etwas aus dem Wasser, jetzt in meinem Beinfestgebissen hatte.
Vor mir bewegte sich etwas.
Ein alter Baumstumpf stand langsam auf,als ich mich näherte und griff mit seinen Armen nach mir.
Eine Moorleiche.
In letzter Sekunde wich ich aus undkrabbelte an dem Wesen vorbei, spürte dabei seinen fauligen Atem aufmeiner Haut.
Die dunklen Äste der Bäume bewegtensich und modrige Körper plumpsten zu Boden, die langsam aufstanden.
Panisch hastete ich in die falscheRichtung und mein Weg endete direkt vor dem Moor.
Ich war in eine Sackgasse gerannt.
Der Weg zurück war versperrt.
Schattenhafte, taumelnde Gestaltenkamen von der Landzunge aus immer näher.
Vor mir der Tod. Hinter mir der Tod.
Doch war ich nicht allein.
Ich griff nach dem Messer an meinemGürtel.
Bevor ich aufgab, wollte ich kämpfen.
Zunächst klein, dann immer deutlichererschien neben mir über der Wasseroberfläche ein Licht. Einewinzige Lichtkugel.
Sie schwebte engelsgleich über demWasser.
In ihrem farbenprächtigen Schein,hörte der pochende Schmerz in meinem Bein auf. Ich sah an mir herabund erkannte den Schatten des Hundes. Er hatte sich in meinem jetztblutenden Bein verbissen. Doch durch das unerwartet aufgetauchteIrrlicht, ließ der Hund los und zog sich in die Finsternis zurück.
Der Weg war frei. Keine Trugbilderwaren mehr in der Anwesenheit des schimmernden Geistes neben mir zusehen.
Keine untoten Gestalten und keineMoorleichen. Nur das grüne Gras und die alten Bäume. Das warmeLicht durchfloss mich und spendete mir die dringend benötigte Ruhe.
Es war so angenehm, so herzerwärmend.
Etwas so wundervolles hatte ich nochnie zuvor gespürt.
Ich drehte mich zu der schillerndenFarbenpracht um. Ich hatte das Bedürfnis, sie anzufassen. Sie zustreicheln.
Seicht schwebte die Kugel über derWasseroberfläche.
Ich machte einen Schritt mitausgestreckter Hand in ihre Richtung.
Der Schein wich zurück.
„Du brauchst keine Angst vor mir zuhaben. Ich tu dir schon nichts.“
Ich lächelte beglückt und das Wesentanzte über dem Wasser vergnügt auf und ab. Es spielte mit mir. Wirspielten Fangen.
Vorsichtig ging ich Schritt fürSchritt weiter auf das Leuchten zu.
Meine Füße wurden nass.
Das Licht schwebte wieder etwas weiternach hinten.
„Ganz ruhig“, sprach ich.
Meine Beine wurden nass.
Der Geist schimmerte noch immerfarbenprächtig vor sich hin, doch blieb er weiterhin auf Abstand.
„Du brauchst keine Angst zu haben“,beruhigte ich das Wesen vor mir.
Meine Hüfte wurde nass.
Anscheinend war mein Versuchfehlgeschlagen. Denn aus heiterem Himmel flog das Irrlicht vielweiter nach hinten. Es wollte abhauen.
Ich durfte es doch nicht gehen lassen!Jetzt, wo es endlich hier war.
Angestrengt watete ich hinterher. Jederweitere Schritt war eine Qual, bis einer meiner Füße im Grundstecken bleib.
„Warte!“, rief ich dem Licht zu,während ich verzweifelt versuchte mein Bein wieder frei zu bekommen.
Doch vergebens. Das andere Bein steckteauch bereits fest.
„Warte doch!“
Das Licht blieb in weiter Ferne kurzstehen, dann zog es weiter.
„Komm zurück!“
Ich steckte bis zu den Knien im Schlammund bis zu der Brust im Wasser fest.
„Irrlicht…. Wo bist du?!“, riefich noch immer.
Ich fühlte kalte Hände an meinerHüfte, die meinen Rücken empor glitten.
„Irrlicht!“, schrie ich weiter undrutschte dabei immer tiefer.
Mehrere Arme schlossen sich um meinenKörper und zogen mich in die Tiefe.
Bis zum Schluss versuchte ich nocheinen letzten Blick auf die fantastische Erscheinung dieses Ortes zuerhaschen, doch alles was meine Augen erblickten, war die innereSchwärze eines Moores bei Nacht.
Vor drei Wochen ist mein Großvatergestorben.
Das ist jetzt nicht unbedingt eineinladender Satz für eine Geschichte, aber dies ist auch nichtunbedingt eine angenehme Erzählung, die ich hier zu machen habe.
Dieser gewählte Anfangssatz, soll demLeser genau das zeigen, was er zu erwarten hat. Wer fröhliche undglückliche Geschichten favorisiert, wird mit der meinigen wohl nichtauf seine Kosten kommen. Denn sie ist alles andere als heiter undfreudestrahlend. Sie ist das Produkt meines Erlebens. Eine wahreGeschichte.
Ich habe nur noch einen Zug zu machen,dann wird mich mein Gegner vermutlich Schachmatt setzen. Gewinnenkann ich nicht mehr. Die Sekunden vergehen und die Schachuhr tickt.Sie raubt mir die Zeit.
Tick…
Tack…
Tick…
Tack…
Ich bin neugierig geworden. Neugierigdarauf, wie es jetzt genau enden wird.
Schnell oder langsam? Werde ich bis inalle Ewigkeit in diesem Spiel gefangen sein? Meine Hände zitternbereits.
Eine seltsame, makabere Vorfreude aufdas Unbekannte überkommt mich. Endlich werde ich erfahren können,was das alles auf sich hat. Ich werde die Macht dieses Spieles fühlenund mich ihrer Größe hingeben.
Doch fangen wir bei meinem Großvateran…
Mein Großvater, Gott hab ihn selig,war ein ziemlich einsiedlerischer Kauz. Meine Großmutter war schonlange vor ihm verstorben, ich hatte sie noch nicht einmal kennengelernt. Ihren Tod hat er wohl nie verkraftet, weswegen er es vorzog,von allen Menschen abgeschottet in seinem renovierungsbedürftigenBungalow zu hausen.
Meine Mutter hegte als Einzige nocheinen gewissen Kontakt zu ihm. Er war ihr Vater und sie fühlte sichwohl ein wenig für ihn verantwortlich.
Als ich meinen Großvater das letzteMal gesehen hatte, da war ich etwa zwölf Jahre alt gewesen.
Eines Tages überkam mich dasVerlangen, ihn einmal zu besuchen. Also hab ich mein Fahrrad genommenund bin einfach zu ihm geradelt. Es war die Zeit zwischen Frühlingund Sommer. Schon recht warm, aber nicht unangenehm heiß.
Ich hab mein Rad an seiner Gartenpforteangelehnt und war einfach aufs Grundstück gegangen. Ich kannte ihnja schließlich.
Er hatte mich anscheinend nichterkannt…
Das Ende vom Lied war, das ich von ihmschreiend und mit einem bedrohlich erhobenen Spaten vom Grundstückgejagt worden bin. Mir blieb nicht einmal die Zeit, geschweige denndie Möglichkeit, ihm zu erzählen, wer ich eigentlich war.
Meine Mutter hatte darüber nurgelacht. Für mich hingegen, blieb es mein letzter Besuch bei ihm.Erst als er starb, betrat ich sein Grundstück wieder.
Mein Großvater hatte zwei großeLeidenschaften. Die erste war das Schnitzen.
Er schnitzte in stundenlangerKleinstarbeit teilweise realistisch aussehende Tiere aus Holz. Sogarseine Tische und Stühle, sowie die Beine des Bettes hatte er mitseiner Schnitzerei aufwändig verziert. Sein Talent war richtigbeeindruckend und ich versuchte mich in der Folgezeit auch ein wenigan seinem Hobby, da ich die Hoffnung hatte, etwas von seinem Talentgeerbt zu haben.
Meine fertigen Exemplare sahen abernicht halb so beeindruckend aus wie die seinigen und aus Mangel anGeduld für die Perfektionierung einer solchen Fähigkeit, hab ich eslieber ganz sein lassen.
Die zweite Leidenschaft meinesGroßvaters war Schach.
Er liebte das Schachspiel sehr. Er lassogar Bücher darüber.
Doch da Schach ein Spiel für zweiPersonen ist und mein Großvater keinen Besuch duldete, pflegte ereine andere, alte Form des Zwei-Personen-Schachspiels.
Ich fand in einer Ecke einen dickenStapel Postkarten. Sie kamen von einem gewissen Eolin Rabensteinaus Russland. Die Nachrichten auf den Karten könnte manpersönlicher gar nicht verfassen:
Td3
Sxb4
Kf2
a4
Es dauerte einen Augenblick bis mirklar wurde, dass es sich dabei um Schachzüge handelte.
Mein Großvater hatte also mit einemunbekannten Herrn aus Russland ernsthaft per Post Schach gespielt.
Warum mich das so verwundert?Vermutlich weil ich aus der Zeit des aufsteigenden Internets stammeund ich es mir nicht einmal im Traum vorstellen kann, mit Jemandenein Spiel zu spielen, bei dem ich Wochen auf den nächsten Zug meinesGegenübers warten muss.
So ein Schachspiel, eine Partie, hatstellenweise bis zu eineinhalb Jahre gedauert! Ich hab das genauüberprüft.
Und dann auch noch per Post ausRussland, sehr teuer. Dafür hatte man sicherlich viel Zeit, um sichseinen nächsten Zug im Spiel genau zu überlegen.
Obwohl mir mein Großvater auf Grundunseres letzteren ruppigen Aufeinandertreffens eher unsympathischwar, so empfand ich ihn doch nach seinem Tod als interessantenMenschen mit viel Potential.
So fing ich an meiner Mutter Fragen zustellen. Vor allem aber wollte ich wissen, woran er eigentlichgestorben war. Die Antwort war ziemlich unspektakulär und klangziemlich normal für einen älteren Herrn. Er war wohl gestürzt undhatte sich das Bein gebrochen. Da er es vermied einen Arztaufzusuchen, hatte sich der Bruch irgendwie entzündet, darauffolgten vermehrter Haarausfall, Fieber und schließlich der Tod.
„Da konnte man nicht mehr vielmachen. Er war zu engstirnig um zum Arzt zu gehen“, so sagtemeine Mutter achselzuckend dazu.
Eine gewisse Sympathie zu meinemGroßvater breitete sich in mir aus und ich entschloss mich, seinselbst geschnitztes Schachspiel mitzunehmen. Vielleicht lag mir dasja mehr als sein anderes Hobby.
Das Schachspiel sah äußerstfaszinierend aus und ich stellte es bei mir im Wohnzimmer auf einenBeistelltisch, wo es ganz alleine drauf Platz fand.
Es dauerte nicht lange, bis Freundedarauf aufmerksam wurden. Die Figuren selbst hatten die grobenStandartformen, doch waren sie noch verziert worden. So besitzenKönig, Dame, Läufer und Bauer sogar Gesichter und Andeutungen vonArmen und Beinen.
Der Turm bestand nicht aus Mauerwerk,sondern wirkte mit seiner Maserung und den Verzierungen eher, wie einklobiger Baum.
Doch der Springer war wederfaszinierend, noch anziehend, er war schlichtweg einfach nurgruselig. Diese Schachfigur ist im Standartspiel die Einzige, miteinem richtigen Gesicht, doch mein Großvater hatte allen vierPferden fürchterliche, beinahe schon groteske, peinerfüllte Fratzenverpasst. Die Tiere wirkten so, als wären sie dämonischen Ursprungsgepaart mit dem Blick auf einen unsichtbaren Schlachter vor ihnen,der ihnen jeden Moment die Kehle aufschneiden würde. Eine Mischungaus Teuflischem und purer Angst.
Zuerst dachte ich, mein Großvaterhatte sich bei einer Figur aus Versehen verschnitzt und diesermorbide Ausdruck der Tiere sei durch Zufall entstanden, doch hattenalle vier Pferde trotz eines leichten Gesichtsunterschiedes denselbenpanisch, dämonischen Ausdruck.
Jeder, dem ich diese Figur zeigte,starrte sie zuerst ziemlich erschrockenem an.
Mein bester Freund Stefan hat sicheines der Pferde sogar einmal ausgeliehen, um seinen kleinen Neffendamit zu erschrecken, der ihm immer Sand in die Schuhe gekippt hatte.Es war ein voller Erfolg gewesen.
Weitere Besonderheit des Spiels, dieweißen Figuren waren alle soweit einheitlich, nur die schwarzenFiguren nicht. So fehlte einer der Bauern. Zumindest fehlte er in demDesign, in welchem die anderen Bauern gehalten waren. Der achte Bauerwar auffällig klein und auch nicht so verziert und geschmückt wiedie anderen.
Auch ein schwarzer Läufer fehlte.Statt seiner hatte mein Großvater ein Gebilde eines kleinen Hundesauf zwei Pfoten in die Figurenschachtel gelegt. Möglicherweise hatteer die zwei fehlenden Figuren verloren und sich so Ersatz beschafft.
Die zwei andersartigen Figuren führtenjedoch dazu, dass Gäste, die das Spiel spielen wollten, gerneschwarz wählten. So musste ich immer mit weiß spielen. Dafürgehörte mir der erste Zug.
Meinen damaligen besten Freund, StefanAckermann, erwischte es leider als ersten.
Er bestand darauf, dass wir dasSchachspiel nicht nur zum Verschrecken kleiner Kinder, sondern aucheinmal für das Schachspiel verwenden sollten. Nichts ahnend willigteich ein und wir bauten die Figuren auf. Stefan wählte natürlichschwarz, ich musste mich mit weiß begnügen.
Wir spielten eine amateurhafte Rundedes alten Klassikers, wo es uns weniger um taktisches Denken undGeschick, als viel mehr um das schnelle Schlagen gegnerischer Figurenging. Hätte Jemand das Spiel mit realen Menschen nachgestellt, wärees ein wahrliches Gemetzel geworden.
Doch beim Spiel zeigte sich mir einnatürliches Talent für diese Form von Strategie. Ich gewannleichtfüßig und Stefan beharrte auf einer Revanche. Er war sowutgeladen wegen seiner Niederlage, dass er wild mit den Armenherumfuchtelte, er fand nämlich meinen letzten Zug, mit dem ich ihnschachmatt gesetzt hatte ziemlich unfair, dass er sein Colaglasumstieß, welches am Boden in viele Teile zerbarst.
„Toll gemacht mein Freund“,goss ich Salz in die Wunde. Dabei war es ja eigentlich mein Glasgewesen.
Beim Aufheben der Scherben vor derzweiten Schachrunde, schnitt sich Stefan an einem der Bruchstücke.Es war jedoch kein tiefer Schnitt, weswegen ich ihm ein sauberesTaschentuch gab und dann die Figuren für das zweite Spielvorbereitete.
Die zweite Runde war ebenso schnellbeendet, wie die erste. Selbst der Sieger blieb identisch. Ich war’smal wieder.
Amüsiert lachte ich über Stefansplumpe Niederlage, die noch schäbiger als die erste war und wirließen es für den Abend mit dem Spiel gut sein.
Wir hätten es besser generell gut seinlassen sollen.
Als mein Freund nach Hause gehenwollte, rutschte er auf der Treppe im Flur aus und polterte einStockwerk nach unten. Er hatte sich das Bein gebrochen und ich mussteihn ins Krankenhaus bringen.
Er meinte das sei meine Schuld gewesen.Wie ich im Nachhinein erfahren durfte stimmte das, nur war dieBegründung falsch. Er sagte scherzhaft, ich hätte ihn abgelenkt unddarum sei er ausgerutscht. In Wahrheit lag es am Schachspiel. Erhatte die zweite Partie verloren.
Ich besuchte ihn ab und zu und einmalbat er mich, das Schachspiel wieder mitzubringen. Er hätte diesesMal etwas über Schach gelesen und würde mich jetzt fertigmachen.
Diesen Wunsch schlug ich ihm nicht abund so spielten wir am folgenden Tag noch eine Partie. Wieder verlorer.
„Jonathan Jeff Aring, ich schwöredir, ich schlag dich noch!“, fluchte Stefan, musste aber kurzdarauf über sich selbst lachen und somit war alles wieder gut.
Darauf hörte ich eine Woche langnichts mehr von ihm. Als ich eines Nachmittages besorgt bei ihmklingelte, öffnete er zwar die Tür, doch war ich geschockt bei demAnblick seiner Person.
„Ich weiß ich weiß… und dieÄrzte wissen es nicht, das ist der Knackpunkt. Keine Ahnung wasplötzlich los ist…“
Haarausfall.
Viele kahle Stellen zierten seinenKopf. Nur noch wenige dunkle Strähnen hingen nach unten, dochkonnten sie die nackte Haut neben sich nicht verdecken. Nicht einmal,bis zum nächsten Windstoß.
Ich biss mir auf die Unterlippe, umnichts zu sagen.
Stefan bat mich deprimiert rein und wirredeten etwas. Irgendwann kamen wir wieder auf das Schachspiel zusprechen, welches ich bei ihm vergessen hatte. Wir spielten eineRunde, doch auch dieses Mal konnte Stefan mich nicht schlagen.
Bei meinem nächsten Besuch am darauffolgenden Tag hatte er hohes Fieber bekommen.
Wieder spielten wir eine Partie, wiederverlor er und am nächsten Tag öffnete mir keiner die Tür.
Er war in der Nacht seinem Fiebererlegen, mit nur 26 Jahren.
In den Wochen darauf saß ich vielZuhause rum und starrte aus dem Fenster. Ich dachte nach, nur wussteich nicht, worüber. Ich hatte keine Lust die Zeit zu genießen. Ichkonnte nicht. Und ich verfluchte die Sonne jeden Tag aufs neue, dasssie aufging und die Vögel draußen, dass sie sangen. Mein besterFreund war gestorben und ich wollte trauern, wollte von Trauerumgeben sein.
Irgendwann fiel mein Blick wieder aufdas Spiel. Ich nahm eines der Figürchen der schwarzen Seite und sahes mir genau an, wie an jenem Tag, an dem ich das Spiel zum erstenMal gesehen hatte.
Es war ein Bauer, ein simpler Bauer. Erstand da, mit einer eingravierten Forke in der Hand und sah michabwartend an.
Nach einiger Zeit erhob ich mich undschlenderte zu dem Schrank, indem ich die Schachtel für die Figurenaufhob. Dort befand sich nicht nur diese, sondern auch hundertePostkarten des Herrn Rabenstein aus Russland. Ich nahm den Stapelheraus und setzte mich mit ihnen wieder auf mein Sofa, den Bauer nochimmer in der Hand.
Ich zog eine Karte.
1.e4
Das hieß es handelte sich um denersten Zug. Bauer auf e4.
Der Bauer, den ich aus dem Spielgenommen hatte, stand ursprünglich auf e2. Jetzt erst fiel mir auf,dass ich die Farben schwarz und weiß auf dem Brett vertauscht hatte.Ich ließ mich auf das komische Spielchen ein und stellte den Bauernvon einst e2 jetzt auf e4.
Dann machte ich meinen Zug mit denweißen Figuren.
Schmunzelnd zog ich eine zweitePostkarte zufällig aus dem Stapel. Ich rätselte wie lange es wohldauern würde, bis ich einen passenden Zug zog.
Antwort, keine zehn Sekunden.
2.Sf3
Verwundert setzte ich den Springer undzog selbst.
Nächste Karte und ich staunte:
3.d4
Und so ging es weiter…
4.Sxd4
5.Sc3
6.Lg5
7.f4
8.Df3
Und weiter…
Ich zog immer wieder passende Kartenfür die nächste Runde, sogar mit der richtigen Rundenangabe. Daskonnte doch nicht stimmen.
Ich war so perplex, dass ich selbstkaum aufpasste und eh ich mich versah, hatten die Postkarten michschachmatt gesetzt.
Ich atmete tief durch und ließ michnach hinten fallen, während ich noch immer wie gebannt auf das Spielstarrte.
Verloren…
Nach ein paar Minuten setzte ich michwieder aufrecht hin und sammelte die Postkarten ein. Was war dagerade eben geschehen? Und wie wahrscheinlich war das bitte?
Ich Lächelte. Zum ersten Mal nachStefans Tod lächelte ich wieder.
Autsch!
An einer der Postkarten schnitt ichmich tief. Es hörte kaum noch zu bluten auf. Ich ließ die Karten wosie waren und verband mir lieber den blutenden Finger.
Als ich wieder zurück ins Wohnzimmerkam und auf das Schachspiel blickte, konnte ich meinen Augen kaumtrauen. Unten am Spielbrett, direkt neben dem eingeschnitzten Namenmeines Großvaters Erich Aring sah ich etwas Dunkles. Einenkleinen, dunklen Fleck.
„Blut“, stellte ichüberrascht fest.
Dann legte ich das Spiel wieder zurückund sortierte die Figuren in ihre Schatulle. Die Lust zu Spielen warmir gerade vergangen.
Müde wie ich war, ging ich zu Bett.
Doch nach etwa drei Stunden, draußenhatte es gerade Mitternacht geschlagen, wurde ich von einem Raschelnaus dem Wohnzimmer geweckt.
Ich stand auf und schlich durch denFlur zur Stube hin. Doch betrat ich sie nicht, sondern lugte ersteinmal durch die offene Türe.
Im fahlen Licht des Mondes hatte ichden Eindruck, als würde dort ein kleines Wesen mitten in meinemWohnzimmer hocken.
Ich sah etwas genauer hin und erkannteeine Schachfigur, den Hund.
Er saß aufrecht, wie er geschaffenwurde, Mitten auf meinem Teppich. Aber sein Schatten war nicht ganznormal. In dem seichten Licht wirkte er größer als die Figur,beinahe schon riesig und vor allem lebendig.
Der Schatten der Figur rührte sich,bewegte sich, streifte schnüffelnd durchs Zimmer, doch hielt nachwie vor den scheinbar zwanghaften Kontakt zu seinem Abbild in derdritten Dimension.
Ich traute meinen Augen kaum und betratdas Wohnzimmer in der Hoffnung, der sich bewegende Schatten sei nurein Trugbild der Nacht, der Geisterstunde.
Der Schatten sah auf, erkannte mich undlief flux zurück zur Figur.
Im selben Moment schaltete ich dasLicht an.
Nichts…
Die Figur saß da, der Schatten warwieder normal.
Ich hob den kleinen Hund zögernd hoch.Er war ganz warm.
Ängstlich ließ ich ihn fallen und sahmich im Zimmer um. Vielleicht war es ja kein Schatten gewesen,sondern eine große Ratte, die durch die Stube gelaufen war.
Doch es war nichts zu erkennen.
Noch immer fragte ich mich, was dieseobskure dunkle Gestalt wohl gewesen war, da kam mir eine neue Fragein den Kopf…
Wie war die Figur aus der Schatulleins Wohnzimmer gekommen?
Der Schrank mit dem Spiel stand offen,die Box lag auf dem Boden und sämtliche Figuren befanden sich aufdem Boden.
Ich hatte sie wohl unsachtgemäß inden Schrank getan, so dass sie heraus gefallen waren. Dann war derSchatten sicher Einbildung gewesen.
So räumte ich alles wieder ein undlegte mich hin.
Keine fünf Minuten später, hörte ichein Kratzen. Wieder aus dem Wohnzimmer.
Dieses Mal sprang ich auf und ranntegleich los, zum Lichtschalter.
„Was zum…?“
Die kleine Figur des Hundes standwieder aufrecht auf dem Wohnzimmerteppich, neben ihr eine Postkarte.
e4
„Nein…“
Ich legte die Sachen wieder dorthinzurück, wo sie hergekommen waren. Als ich das Wohnzimmer verlassenwollte und gerade das Licht ausgeschaltet hatte, viel etwas in meinemSchrank um. Scheppernd öffnete sich die Tür und kleineSchachfiguren kullerten über den Boden.
Der Hund rollte bis zur Mitte desZimmers und richtete sich dort auf.
„e4“, hallte es mir durchden Kopf.
„NEIN!“, schrie ich.
Das konnte doch alles nicht wahr sein.
Wieder wollte ich alles einräumen, alsich gegen den Stapel mit Postkarten kam, der sofort umfiel.
Eine der Karten glitt mir zu Füßen.
e4
Teils aus Ohnmacht gegenüber einerunbegreiflichen Situation, teils aus schierer Neugierde, setzte ichmich auf den Boden und stellte die Figuren auf.
Gegnerischer Bauer auf e4…
Der Hund… die Figur des Hundes setzemich erneut schachmatt.
Ich saß im Schneidersitz mit einemschon schmerzenden Rücken auf Grund gebeugter Haltung und kapiertenicht, was gerade passiert war.
Ich verstand es auch am nächsten Tagnoch nicht, als ich die Treppe herunter fiel und mir ein Bein brach.Und auch in der darauf folgenden Nacht nicht, als mich ein Kratzen anmeiner Tür weckte.
Ich hörte ein Schnauben, einSchnüffeln ein Röcheln. Als würde etwas an meiner Tür schnuppern.
„Sie ist offen…“, sagteich im Halbschlaf, noch immer auf der Suche nach Antworten.
Wie von Geisterhand öffnete sich dieTür.
Ich hob den Kopf, sah aber niemandenauf Augenhöhe.
Ich suchte tiefer und tiefer.
Ein schwarzes Etwas kam ins Zimmer undstellte die Ohren auf. Der Schatten des Hundes, ich erkannte ihnwieder.
Ich erstarrte.
Der Hund sagte nichts, sondern verließdas Zimmer wieder. Dann hörte ich ein Poltern aus dem Wohnzimmer.
Wie gebannt starrte ich auf diehalboffene Tür.
Wieder erkannte ich den Schatten, derin mein Schlafzimmer sah.
D2…
„Was?“
D2…
Gegnerischer Bauer auf d2.
So begann das nächtliche Schachspielmit dem Schattenhund.
Wieder saß ich im Wohnzimmer undwieder zog ich Anweisungen aus einem Haufen alter Postkarten undwieder unterlag ich dem hölzernen Hund.
Langsam stellte sich in meinem Innereneine beunruhigende Resignation über diese Situation ein.
„Bald ist es soweit….“,hörte ich eine unnatürliche Stimme flüstern. Oder war ich es etwaselbst gewesen.
Meine Kopfhaut begann zu jucken.
Am nächsten Morgen hatte ich mich fastganz wund am Kopf gekratzt.
Ob es Läuse waren?
Als ich aus der Dusche kam, hatte ichfast das ganze Bad unter Wasser gesetzt. Warum? Meine ausgefallenenHaarbüschel hatten den Abfluss fast vollständig verstopft.
Keine Haare mehr, kein Läuseproblem.
Ich befand mich in einem Gefühl derOhnmacht. Keine Wertung mehr, komplette Teilnahmslosigkeit.
Nachts lag ich im Bett und wartete,wartete auf die Zeit, da die Kirchturmuhr zwölf Mal schlug.
Jedes Mal, zur vollen Stunde, schlossich die Augen und zählte mit.
Eins… Zwei… Drei…
Endlich kratzte es an der Tür.
Ich setzte mich aufrecht hin undwartete.
Eine schwarze Schnauze ragte insZimmer, gefolgt von einem Kopf.
Der Schattenhund sah mich an, wolltemich für das nächtliche Spiel abholen.
Ich ging mit ihm mit.
Das Spiel stand bereit, wie diePostkarten auch.
Weiß beginnt, schwarz gewinnt.
Bauer auf C4…
Am nächsten Morgen fühlte ich michaußerstande mein Bett zu verlassen, doch wollte ich aufstehen.
Fiebrige Träume hatten an meinenKräften gezehrt und mir keinerlei Erholung gegönnt. Aber ich wolltenoch eine Sache kaufen, eine Schachuhr.
Vielleicht konnte ich gewinnen, wenndie Zugzeit meines nicht materiellen Gegners abläuft. Mein letzterAusweg wohlmöglich.
Ich quälte mich aus dem Haus und daich außerstande war selbst zu fahren, nahm ich den Bus bis zurgroßen Einkaufsstraße in Nepolar.
Dort betrat ich fiebrig und zitterndden ersten Spielwarenladen den ich sah und fragte nach einerSchachuhr.
Doch anstatt mich gleich zu bedienen,fragte mich die Verkäuferin nur, ob mir nicht wohl sei. Natürlichwar es das nicht! Doch bestand ich darauf, eine Schachuhr zu kaufen.
Zum Glück hatten sie noch eine. Eineteure, für fünfzig Euro. Ich hoffte das war der Preis der Freiheit.
Ich bezahlte und ging. Schweiß liefmir von der Stirn und ich wankte zurück zum Busbahnhof. Diesesverdammte Spiel…
Ich schreckte auf, als ich plötzlichdas hohle Klappern von Hufeisen auf dem Asphalt hörte. Es war eineKutsche, die an mir vorbeitrabte und obwohl es nicht sein konnte, soerkannte ich im ersten Augenblick in den Gesichtern der Pferde desGespanns jene abscheulichen Fratzen, die mein Großvater geschnitzthatte.
Mit offenem Mund sah ich zu demKutscher herüber und für eine Sekunde, die mir wie eine Ewigkeiterschien, kreuzten sich unsere Blicke und ich erkannte in demKutscher jenen kleinen Bauern der einzigartig auf der schwarzen Seitestand. Und neben ihm, direkt neben ihm, saß ein schwarzer Hund.
„Sie sind gekommen, mich zuholen….“
Ich drehte mich zu einer Frau neben mirum und fragte sie panisch, ob sie die Fratzen der Pferde auch gesehenhätte?
Sie starrte mich verwirrt undangewidert an, aber antwortete nicht.
Da packte ich sie am Arm und fragtelauter:
„HABEN SIE AUCH DIESEABSCHEULICHEN FRATZEN DER PFERDE GESEHEN?“
Sie riss sich los und im selben Momentspürte ich den Griff eines Mannes, der mich von der Frau losriss.
Diese ergriff danach die Flucht,während ich ihrem Beschützer gegenüber stand. Ein Typ, der gefühltdoppelt so groß war, wie ich.
Ich fragte ihn nach den Pferden, dochsagte er nur, ich solle ruhig sein und am besten nach Hause gehen…gehen… traben wohl eher. Mit den Höllenrössern und demSchattenhund. Nein.. nein, das ging nicht!
Nein!
Die Polizei griff mich auf.
Ich hatte an der Bushaltestelle fürRandale gesorgt.
Sie wollten mich in eine Zelle sperrenund mir meine Uhr wegnehmen und das war gar nicht gut.
Vielleicht hatten sie die Pferde jawirklich nicht gesehen. Vielleicht war es nur ein erneuterFiebertraum.
Ich saß bei der Polizei und das Lichtder Leuchtstoffröhren brannte auf meinem kahlen Kopf und derSchatten des Hundes, geworfen von einem Polizisten, saß brav nebenmir.
Er stand mir zumindest bei.
Vielleicht war er doch ganz nett.Passte auf mich auf. Sorgte dafür, dass ich den vorbestimmten Wegging.
War das nun gut oder schlecht?
„Ihre Personalien?“
„Jonathan Jeff Aring…“,antwortete ich automatisiert und ritualisiert.
Sie ließen mich nach kurzem Verhörgehen. Mit einer Verwarnung und einem Bußgeld natürlich. DerPolizist, Wirt des Schattenhundes, begleitete mich zum Ausgang. Erblieb stehen und auch der Hund blieb stehen.
Ich verabschiedete mich von beiden,wobei das für verwirrte Blicke beim Polizisten sorgte und ging,bevor er sich es noch einmal anders mit meiner Freiheit überlegte.
Da ich den Bus verpasst hatte, dank derHöllenrösser, musste ich jetzt nach Hause gehen. Doch vermied ichdie Hauptstraßen und schlenderte nur durch Seitengassen.
Zwischen der Rittergasse und demKönigsplatz legte ich an einem alten Schuppen eine kleine Rast ein,bevor ich weiter ging.
Die Laterne neben mir warf einenSchatten an die Wand.
„Keine Sorge… ich geh ja gleichheim. Könnest mir sicherheitshalber den Weg zeigen…“, batich den Schattenhund, der sich in dem dunklen Abbild der Laterne zuformen begann.
Der Hund sprang voraus, ich taumeltehinterher.
Er bildete sich überall, aus jedemSchatten kam er gelaufen, bis zum nächsten.
Mal war es ein Briefkasten, mal einAuto, ja einmal sogar ein Gebäude.
Beinahe vergnügt ging meinSchattenhund mit mir Gassi.
Positiv, er hinterließ keine Häufchenzum wegmachen.
Zuhause angekommen, war es bereitsdunkel geworden.
Der Einkauf hatte mich den ganzen Tagund all mein Bargeld gekostet.
Ich aß etwas, dann bereitete ich dasWohnzimmer vor.
Das Spiel legte ich in die Mitte, dieSchachuhr direkt daneben. Den Haufen von Postkarten breitete ichkreisförmig um mich herum aus.
Ich wartete, wartete auf denSchattenhund.
Eins…
Ob mein Großvater das auch erlebthatte?
Zwei…
Hatte er vielleicht die Pferde auchgesehen und die Figuren nach ihrem Abbild geschnitzt?
Drei…
War der Hund auch ihn besuchengekommen?
Vier…
Ich beneidete meinen Großvater.
Beneidete ihn, weil er per Postgespielt hatte und ihm so mehr Jahre als mir gegönnt waren.
Fünf…
Wusste er, was er tat und konnte aucher nicht aufhören?
Sechs…
Was war am anderen Ende des Spiels?Warum werde ich Nacht für Nacht seit dem ersten Spiel abgeholt.
Sieben…
Der Kutscher hatte nach mir geschaut.Wollte sehen, wen er holen muss?
Acht…
Dort ist etwas… dort muss etwas sein…
Neun…
Hab ich genug anzuziehen? Sollte ichvielleicht noch etwas einpacken?
Zehn…
Es wird dunkel.
Elf…
Ich fühle mich… so frei.
Zwölf.
Der Schattenhund erschien direkt nebenmir. Dieses Mal, musste er mich nicht holen. Heute war ich es, derbereits wartete.
Ich startete die Schachuhr. Jeder hattebloß wenig Zeit für seinen Zug.
Erster Zug, meine Runde. Bauer nach f4.
Ich drückte die Uhr und wartete.
Der Schattenhund neben mir stockte. DieKarten rührten sich nicht. Auch ich zog dieses Mal keine der Karten.
Der kleine, schwarze Bauer machte denAnfang.
H6.
Es klickte.
Die Schachuhr lief weiter, auf meineKosten.
Ich war am Zug.
Jetzt ist es soweit. Nach langem hinund her findet nun die Entscheidung statt.
Gegnerischer Zug. Er hat noch sechsFiguren und ich nur noch drei.
Draußen höre ich wieder das hohleKlappern von Hufen auf dem Asphalt. Pferde. Vier Pferde, gespannt voreiner Kutsche. Ich höre wie sie genau vor dem Haus halten.
Ich atme tief durch.
Mein mir noch immer unbekannter Gegnermacht seinen Zug:
Läufer nach d3.
Schachmatt…